Auch im Unterricht treten zunehmend Probleme auf. So werden Kopien aus Kostengründen auf DIN-A5 Format verkleinert – ein Horror für Julia mit ihrer Sehschwäche. Wir spenden Kopierpapier, aber es ändert sich nichts. Als die leistungsvergleichenden Abschlussprüfungen am Ende der zehnten Klasse anstehen -Julias Klasse ist der erste Jahrgang – fragt die Schule bei der Bezirksregierung an, wie sie mit Julia verfahren soll. Ein Beratungslehrer des ” Mobilen Dienstes ” erscheint daraufhin in der Schule und fordert wirksamere und vor allem auch fachspezifische Nachteilsausgleiche für Julia. Bislang hat sie z.B. in Klassenarbeiten immer Punktabzüge bekommen, wenn sie wegen ihrer feinmotorischen Probleme keine Zeichnungen abliefern konnte oder wenn sie Leseprobleme wegen der verkleinerten Schrift hatte. Aber die Schule überlegt es sich anders:

Kurz darauf werden wir vom Schulleiter Peter Nissen vorgeladen und aufgefordert, unsere Tochter nach Abschluss der zehnten Klasse von der Schule zu nehmen, da ihre Beschulung in der gymnasialen Oberstufe zu große Schwierigkeiten bereiten würde. Nähere Erklärungen erhalten wir nicht. Eine schriftliche Begründung lehnt er ab.

Als wir der Aufforderung der Schulleitung nicht nachkommen, findet sie andere Möglichkeiten, ihrer Forderung Nachdruck zu verleihen: Um eine ” Vergleichbarkeit mit anderen Schülern ” – wie es mit unverhohlenem Zynismus heißt – zu gewährleisten, soll Julia künftig ihre Klassenarbeiten selbst schreiben. Konkret bedeutet dies, dass sie im Unterricht und bei Hausaufgaben ihre Schreibhilfe nutzt, diese ihr aber in Prüfungssituationen verweigert wird – eine völlig unsinnige Situation, da sich doch gerade bei Stress ihre Spastik verschlimmert. Alle von ihr bisher erworbenen Zensuren werden zu ” pädagogischen Zensuren ” erklärt, und die Schulleitung teilt uns mit, dass man sie nun strenger zensieren werde. Auch räumlich führt die Schulleitung eine Veränderung herbei: Sie verlegt Julias Klassenraum vom Erdgeschoss in den ersten Stock. Dadurch ist sie weit entfernt von der behindertengerechten Toilette.

Julia hält dem unerhörten Druck, dem sie ausgesetzt ist, gesundheitlich nicht mehr stand. Sie bricht vereinzelt bei Klassenarbeiten zusammen, und eine Magenschleimhautentzündung macht ihr zu schaffen. Mehrere Wochen vor Schuljahresende wird sie von der Amtsärztin, die einen solchen Umgang mit einer behinderten Schülerin nicht länger verantworten will, vom Unterricht befreit. Mit fünfmal ” mangelhaft ” bleibt Julia, die in den früheren Schuljahren noch niemals eine fünf im Zeugnis hatte, am Ende der zehnten Klasse sitzen. Eine Hilfe von seiten Aufsicht führender Behörden erhält Julia nicht: Die Dezernentin der Lüneburger Bezirksregierung Frau Schuldt, die für die Überwachung von Nachteilsausgleichen zuständig ist und sich offenbar mit dem Schulleiter des Johanneums überworfen hat, lässt Julia kläglich im Stich! Das Verwaltungsgericht erklärt eineinhalb Jahre später die Nichtversetzung für rechtswidrig und legt fest, dass die jeweiligen Verfahren zur Leistungsüberprüfung für sie transparent und vorhersehbar gestaltet sein müssen, um Unsicherheiten zu vermeiden und Chancengleichheit zu gewähren. Zum Zeitpunkt des Urteils hat Julia das Schuljahr schon längst wiederholt! Im übrigen bleibt das Urteil folgenlos. Im Gegenteil: Der verantwortliche Schulleiter des Johanneums Peter Nissen steigt kurz darauf zum Dezernatsleiter für Gymnasien bei der Lüneburger Bezirksregierung auf. Das bedeutet: Der Mann, der Julia aus dem Gymnasium gedrängt hat, ist jetzt als Verantwortlicher der Aufsichtsbehörde für sie zuständig.

Nach den Erfahrungen im Johanneum will Julia nicht mehr dorthin zurück. Sie wechselt in das Gymnasium Lüneburger Heide, das über den Status einer staatlich anerkannten Ersatzschule verfügt. Obwohl man uns verspricht, auf ihre besonderen Probleme als körperbehinderte Schülerin einzugehen, wollen wir sichergehen und schließen neben dem Schulvertrag eine Zusatzvereinbarung ab, in der wir uns zur Übernahme eventueller zusätzlicher Kosten verpflichten, die aus Julias Sonderbetreuung erwachsen könnten. Um zu klaren und einheitlichen Maßstäben für Julias schulische Behandlung zu gelangen – an denen es zuvor stets gefehlt hat – stellen wir bei der Bezirksregierung einen Antrag auf Gewährung von rechtsverbindlichen Nachteilsausgleichen. Trotz mehrfacher Anmahnung bleibt der Antrag zwei Jahre lang unbearbeitet liegen.

 

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